Elena Wollenmann

Amerikanische Revolution

2. Juni 2025

«Boarding beginnt in wenigen Minuten», ertönte es aus den Lautsprechern. Die Flugpassagiere erhoben sich aus ihren Stühlen und bildeten eine Schlange bis zu dem Pult mit den zwei Flughafenangestellten. Der Flughafen war für mich immer ein faszinierender Ort, aber heute fand ihn einfach nur traurig und miserabel. Wieso sollte ich von zu Hause weg?

Ich stand hinter meinen Eltern in der Schlange. Mein Vater hatte den Arm um meine Mutter gelegt; sie flüsterte ihm etwas zu. Darauf lachte er. Ich starrte auf meinen eingeklappten Pass und das Flugticket darin. Darauf stand, dass der Flug um Viertel nach eins abheben sollte. Jetzt war schon neun nach – also kaum pünktlich. Ich übergab den Pass samt Ticket einer Frau am Pult. Sie nahm ihn entgegen und scannte ihn ein. Sie lächelte mir zu und wünschte mir einen guten Flug und Aufenthalt in Amerika. Ich ignorierte sie, nahm meine Reisedokumente zurück und folgte meinen Eltern den Gang hinunter.

«Lily, kannst du dich nicht ein wenig auf unser gemeinsames Abendteuer freuen?»

«Du meinst auf diesen Schwachsinn, der mich aus dem Leben reisst? Nein danke, ich will nicht ganz neu anfangen!»

Die Flugpassagiere freuten sich auf ihre Ferien und rutschten aufgeregt auf ihren Sitzen herum. Nur ich nicht. Erstens gingen meine Eltern und ich nicht in die Ferien, sondern wanderten aus und zweitens wurde ich von meinen Eltern gezwungen, mitzukommen. Es war so ungerecht: Sie rissen mich von allem Bekannten weg und brachten mich auf einen anderen Kontinent, mit anderer Sprache und anderer Kultur. Ich musste mich von meinen Freundinnen verabschieden, von meinem Zimmer, von meiner Katze, meiner Schule und Lehrern, meinen Grosseltern, von meinem ganzen Leben! Und nur wegen dem neuen Diplomatenberuf meines Vaters. 

Über acht Stunden später begann das Flugzeug zu sinken, und meine Sitznachbarn tuschelten aufgeregt, während sie aus den runden Fenstern schauten. Ich erkannte grüne Flächen mit Häusern darauf. Das Flugzeug setzte auf dem Boden auf, und die Menge klatschte für die Piloten. Warum tat man das eigentlich? Am Ende einer Zugreise würde niemand klatschen.

«Welcome to the United States», begrüsste mich ein wohl zwei Meter grosser Grenzbeamter in blauer Uniform. Als ich durch die Türen nach draussen trat, begrüsste mich eine heisse, verschmutzte Luft. Sie war ganz anders als in der Schweiz. Wir liefen auf ein gelbes New Yorker Taxi zu und stiegen ein. Es fuhr los, und ich starrte aus dem Fenster. Die Autobahnen waren grösser als zu Hause, der Verkehr floss chaotisch, die Landschaft war kahl und die wenigen Häuser sahen ärmlich aus. Wir fuhren etwa zwanzig Minuten, als ich aus meinem Fenster in der Ferne die Wolkenkratzer sah. Es war wie in einem Hollywood Film.

«Schatz, schau mal die Skyline von Manhattan! So beeindruckend.» Meine Eltern staunten – ich auch, aber ich liess es mir nicht anmerken. Wir fuhren zu unserer Wohnung in einem der oberen Stockwerke, mitten im Trubel der Grossstadt. Es war nicht mein Zuhause. Die nackten Wände, keine Möbel, keine bekannten Sachen. Nur die notwendigsten Sachen lagen herum – in einem Meer von unendlich vielen Kisten.

Am nächsten Tag gingen wir ein paar Sachen einkaufen und die Stadt erkunden. Ich musste mich zuerst an die riesigen Häuser gewöhnen. Vom Boardwalk aus konnte ich kaum den oberen Teil sehen, so weit ragten sie in den Himmel. Die Gebäude waren so hoch, dass man sich winzig daneben fühlt (ein bisschen wie eine Ameise unter den grossen Bäumen im Wald fühlte ich mich). Die Stadt ist in ein Gittersystem aufgeteilt; in Streets und Avenues. So ist es recht einfach, sich zu orientieren. An jeder Ecke roch es anders. Manche Leute waren in Anzügen und in schicken Designerstücken gekleidet, viele Touristen waren mit ihren Kameras unterwegs und Hipsters auf Rollerblades. Ich schaute in die Schaufenster der Läden und blieb vor einem grossen Gebäude stehen.

Es war ein riesiger Bücherladen mit der Aufschrift «Barnes & Noble Booksellers». Meine Mutter schmunzelte, als sie mich staunen sah. Sie ging hinein und ich folgte ihr. Fünf Stockwerke bis unter die Decke gefüllt mit Büchern - mein Paradies! So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich jauchzte innerlich und steuerte auf ein Regal zu und begann, die Bücherrücken zu lesen. Ich merkte nicht, wie lange ich schon den Gestellen entlangschlenderte und mich mit Buchtiteln einlullte. Längst hatte ich meine Eltern aus den Augen verloren, als ich hinter mir plötzlich eine Stimme hörte:

«Hi, are you finding everything you’re looking for? Do you want some help?”.

Hinter mir stand eine junge Frau mit lila Haaren, Nasenring und einem T-Shirt, worauf Barnes & Noble stand.

«No I’m good», antwortete ich.

«Ok, I am Cindy, just let me know if I can help you with anything”. In ihrer Stimme schwang fast etwas Enttäuschung mit, dass ich keine Hilfe brauchte.

Ich merkte, dass ich vielleicht etwas unfreundlich zu dieser hilfsbereiten Angestellten gewesen war, also rief ich noch ein ‘Thank you!’ hinter ihr her. Ich stöberte weiter, bis ich meinen Vater und meine Mutter hinter mir hörte. Sie überzeugten mich, den Laden endlich zu verlassen, damit wir noch die Besorgungen für unsere neue Wohnung erledigen konnten.

Am Montag war mein erster Schultag. Ich war sehr nervös. Meine erste Lektion: Geschichte mit Miss Channing. Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und betrat das Klassenzimmer. Das Erste, was mir auffiel war die grosse USA-Flagge and der Wand. Dann sah ich die kleine Lehrerin mit Brille, die mich herein winkte. Sie wusste anscheinend von mir, denn sie begrüsste mich mit Namen und forderte mich auf, mich mit Namen, Alter und einem ‘fun fact’ vorzustellen.

«Hi. I’m Lily. I’m fourteen years old. I just moved here from Switzerland. I was so sad to leave home. But now I am really looking forward to the next few years”, erzählte ich in meinem besten Englisch. Nun trafen mich viele unterstützende Blicke. Miss Channing lächelte und nickte anerkennend. Sie wies mir einen Platz zuhinterst im Klassenzimmer zu. Ich nahm dort Platz neben einem Mädchen mit vielen Sommersprossen, die sofort mit mir zu reden begann.

«Hi Lily, nice to meet you. I’m Marilyn. You can use my book until you get your own. We just started talking about the American Revolution”.